Praktisches Vorgehen
Im folgenden werden anhand der Bilderstrecke, die Rudolf Thaler zur Verfügung gestellt hat und die einen nahezu idealen Oeschberg-Palmer-Baum zeigt, die einzelnen Schritte der Jungbaumerziehung Jahr für Jahr erläutert.
Das 1. Standjahr
Auf Abb. 13 sieht man den Jungbaum eines ‚Gravensteiners‘ am Ende seines ersten Winters nach dem Schnitt, als einige Blätter bereits austreiben.
Die Formierungsschritte im einzelnen:
(1) Die Stammverlängerung wurde etwa um ein Drittel ihrer Länge eingekürzt. Unterhalb der obersten Knospe sind einige Augen ausgeblendet worden. Zwei schwächere Trieben werden als Fruchtholz dienen.
(2) Der steil stehende Ast wurde heruntergebunden, an seinem Scheitelpunkt hat man ebenfalls einige Augen geblendet. Er wird später als Fruchtholz fungieren.
(3) Da sich die Leitäste genau gegenüber stehen, kann man sie mit größeren Hölzern in den richtigen Winkel zur Stammverlängerung hin herunterbinden. Da sie alle annähernd gleich stark sind, bringt man sie beim Einkürzen in die Saftwaage.
An einem so stark in die Höhe wachsenden Baum, wie dem ‚Gravensteiner‘ muss man Spreizen, da reicht die Formierung durch den Auge-Umkehr-Schnitt (siehe Seite 28) nicht aus.
(4) Etwa 80 cm vom Stamm entfernt, wird jetzt das Auge, aus dem der erste Fruchtast wachsen soll, ausgesucht. Man kann es durch den Halbmondschnitt im Austrieb anregen (siehe „Abb. 11 Austrieb fördern“). Ob es nach links oder nach rechts in die Leitergasse zeigt, ist egal. Die Richtung muss nur an allen vier Leitästen gleich sein, sonst bekommt man keinen gleichmäßigen Kronenaufbau.

Das 2. Standjahr
Abbildung 14 zeigt den ‚Gravensteiner‘ etwa eineinhalb Jahre später.
Die Stammverlängerung (1) ist etwas stärker entwickelt als die 4 Leitäste (2). Sie wurden nicht weiter gespreizt, sondern durch den Auge-Umkehr-Schnitt in die Breite gelenkt. Ab jetzt wird der jährliche Schnitt der Leitäste aber mit dem Schnitt auf ein Außenauge durchgeführt, da von nun an ein steilerer Wuchs der Leitäste erwünscht ist.
Die unteren begleitenden Fruchtäste (3) werden weiterhin mit dem Auge-Umkehr-Schnitt erfolgen. Wichtig ist, dass sie jedes Jahr angeschnitten werden, nur so erreichen sie die nötige Stabilität später die schwere Fruchtlast tragen zu können.

Es fällt auf, dass kaum Triebe zu sehen sind, die ins Kroneninnere wachsen. Daran kann man den Erfolg des konsequenten Ausbrechens der Knospen auf den Astoberseiten ablesen. Alle Triebe, die sich von nun an auf der Oberseite der Leitäste entwickeln, werden pinziert (siehe „Abb. 12 Pinzieren“). Dann entwickeln sie nur eine Blattrosette, die den Ast vor übermäßiger Sonneneinstrahlung schützt.
Exkurs: Begleitende Fruchtäste
Die Fruchtäste haben bei der Oeschberg-Palmer-Erziehung des Jungbaums einen besonderen Stellenwert. Sie sind deutlich stärker ausgeprägt als bei der sonst üblichen Oeschberg-Erziehung. Und das hat den Vorteil, zumindest bei Halbstämmen, dass ein Gutteil des Obstes vom Boden aus geerntet werden kann.
Vom Leitast (LA) gehen der untere (1), der mittlere (2) und der obere Fruchtast (3) ab. Man sieht deutlich mit wie viel Fruchtholz sie besetzt sind. Allerdings zeigen hier auf der Abb.,15 der untere und der mittlere Fruchtast in die gleiche Richtung, nach rechts vom Leitast aus gesehen. Das kann bei reichem Fruchtbehang zu einer einseitigen Belastung des Leitastes und so zum Verdrehen führen. Holz ist zwar sehr stabil auf Druck und Zug, gegen Verdrehung aber nicht, so dass hier Schäden zu befürchten sind.

Das 3. Standjahr
Der Jungbaum hat im letzten Sommer einen kräftigen Zuwachs gebracht.
(1) Hier wird jetzt der erste begleitende Fruchtast an der Stammverlängerung gezogen. Etwa 1 m vom Ansatz des höchsten Leitastes entfernt. Man kann ihn dazu herunterbinden, einfacher und schneller geht das Abspreizen.

Der Fruchtast bleibt dauerhaft an dieser Stelle, deswegen sollte er genau über einen Leitast zeigen, damit man sich die Arbeiten in der Krone nicht unnötig erschwert. Später will man an ihn die Leiter lehnen. Alle künftigen Fruchtäste an der Stammverlängerung werden jährlich um ein Drittel angeschnitten, damit sich ihr Dickenwachstum verstärkt. Alle anderen Äste an der Stammverlängerung, auch die ganz waagerechten bei (2), waren Fruchtholz, das im Zuge der sogenannten Fruchtholzrotation immer wieder ausgetauscht wird.
Bei (3) sieht man sehr schön die Wirkung des Auge-Umkehr-Schnittes. Der untere Trieb ist fast waagerecht gewachsen, der obere wird weggeschnitten.
Die Leitäste können von nun an steiler in die Höhe wachsen, deswegen schneidet man sie auf ein äußeres Auge an.
Dabei legt man gleich die Wuchsrichtung des mittleren begleitenden Fruchtastes fest, eventuell mit Hilfe des Halbmondschnittes . An allen vier Leitästen so, dass der mittlere Fruchtast sich in die entgegensetzte Richtung des ersten Fruchtastes entwickelt.

Das 4. Standjahr
Wichtig bei der Erziehungsarbeit ist es, sich immer wieder eine Vorstellung davon zu verschaffen, an welchem Punkt des Wachstums man sich gerade befindet. So behält man den Überblick und verzettelt sich nicht in Kleinigkeiten. Wie das umzusetzen ist zeigt Abb. 20. In das Hellgrüne, das Baumschema (siehe „Abb.2 Baum nach dem Oeschberg-Palmer-Prinzip“), lässt man den Baum gewissermaßen „hineinwachsen“. Nur dass die Vorstellung räumlich sein muss und nicht zweidimensional, wie die schematische Darstellung unten.

Im Frühjahr, vor dem Rückschnitt, ist diese Aufnahme, Abb. 19, entstanden.
Bei (1) sieht man den Fruchtast an der Stammverlängerung, er wird kräftig zurückgeschnitten. Nun kann man einen zweiten Fruchtast an der Stammverlängerung anlegen, diesmal über einem anderen Leitast angeordnet.
Bei (2) ist der Ansatz des mittleren begleitenden Fruchtastes an dem Leitast angelegt. Er ist bei dieser starkwachsenden Sorte etwa 80 cm über dem unteren Fruchtast (3) angesetzt. Bei schwächer wachsenden Edelsorten reichen auch 60 cm Abstand.

Die Stärke des Rückschnitt der Leitäste lässt sich durch die Druckprobe bestimmen. Man drückt dabei mit der flachen Hand von oben auf den Ast. Biegt er sich dabei im Bereich des einjährigen Holzes, war der Rückschnitt nicht stark genug. Erst wenn der Druck nur auf der Astbasis liegt und sich der einjährige Trieb nicht mehr biegt, hat man die richtige Länge gefunden.
Die auf den Astoberseiten liegenden Knospen werden konsequent ausgebrochen.

Das 5. Standjahr
Nun wird an den 4 Leitästen jeweils der obere Fruchtast angelegt. Diesmal direkt in die Richtung, in die der Leitast zeigt.
Ansonsten werden analog zu den Arbeiten im letzten Jahr
- alle Leitäste angeschnitten. Durch die Druckprobe wird die Länge bestimmt.
- Alle Fruchtäste werden auf zwei Drittel ihrer Länge angeschnitten.
- An der Stammverlängerung wird der dritte. begleitende Fruchtast angelegt.
- An allen beschnittenen Trieben werden konsequent die oberseitigen Knospen ausgebrochen.

Folgejahre
In den Folgejahren ändert sich grundsätzlich nicht so viel an den Arbeitsabläufen bis alle fünf begleitenden Fruchtäste an der Stammverlängerung angelegt sind. Da jeder Obstbaum verschieden ist, muss das immer von Fall zu Fall gesehen werden.
Im 8. Jahr hat der Baum 25 kg Früchte getragen, im Jahr darauf hat aber ein Spätfrost ein fruchten verhindert.
Auf der Abb. 22 kann man alle wesentlichen Elemente eines Oeschbergbaumes noch einmal deutlich sehen.

(1) An der Stammverlängerung die begleitenden Fruchtäste und das Fruchtholz.
(2) Am Leitast die begleitenden Fruchtäste in ihrer unterschiedlichen Ausladung.
Und zwar in vollendeter Ausbildung, die die ganze Zweckmäßigkeit dieser Erziehungsform zeigt. Rudolf Thaler, der diesen Baum ganz nach den Vorgaben von Professor Spreng und Helmut Palmer erzogen hat, weist darauf hin, dass es kaum eine andere Baumform gibt, die so logisch zu erziehen sei, wie diese.
Es sind zwar erst einmal viele einzelne Arbeitsschritte auszuführen, die in der herkömmlichen Erziehung so nicht vorkommen. Doch hat man diese verstanden und anzuwenden gelernt, sieht man, dass sich ein Schritt aus dem anderen ergibt. Durch das konsequente Augenausbrechen z. B. wird eine Menge an unnützer Schnittarbeit eingespart da der Baum von vorne herein dahin gebracht wird seine Kraft in die Triebe zu leiten, die auch wirklich gebraucht werden.
So wie die Früchte unserer Obstsorten in einem Jahrtausende währenden Prozess menschlichen Einwirkens sich aus der Wildform weiterentwickelten und immer vollkommener und schmackhafter wurden, so ist auch diese Baumform eine Kulturleistung. Sie ist naturgemäß, da die Eingriffe in das Wuchsverhalten ganz aus der Beobachtung des natürlichen Wachstums entstanden sind und dies lediglich umgelenkt wurde. So dass es den Zweck, gesundes Obst zu erzeugen, in besonderem Maße erfüllen kann.