Kap 1.2

Spitzenförderung und Apikaldominanz

Die oben geschilderten Gesetzmäßigkeiten sind auf den ersten Blick schwer verständlich. Denn wenn man sich einen alten Baum ansieht, fallen unten der dicke Stamm und meist stark ausgebildete Leitäste sofort ins Auge. Nach oben hin aber verjüngt sich alles. Die Äste sind dünner, bei gepflegten Bäumen ist die Krone oben weniger breit als unten. Wenn man aber genauer hinschaut und vor allem die Triebe ansieht, die im letzten Jahr gewachsen sind, stellt man fest, dass unten in der Krone der Längenzuwachs dieser einjährigen Triebe deutlich geringer ist, als weiter oben. Man muss nämlich unterscheiden zwischen dem Wuchs in die Höhe, das ist das Primäre und dem Dickenwachstum, das ist das Sekundäre.
Das gilt für alle Bäume, die in den gemäßigten Klimazonen wachsen, nicht nur für die Obstgehölze.

Sekundäres Dickenwachstum
Mit dem Wachstums eines Triebes in die Höhe, nimmt als Zweites die Stärke seines Holzkörpers zu. Das nennt man sekundäres Dickenwachstum. Es ist eine Folge von Verkettungen: Dadurch, dass der Trieb gewachsen ist und stärker geworden ist, wächst und verstärkt sich auch der Zweig, auf dem er sitzt. Der Zweig stärkt den Fruchtast, dieser sich selbst und den Seitenast, jener sich selbst und den Leitast und zuletzt wird der Stamm durch die ganze Abfolge an Stärke profitieren.

Beide Gesetzmäßigkeiten erschließen sich aber sofort, wenn man sie vom evolutionären Standpunkt betrachtet. Wo Bäume gut wachsen können, bilden sie sofort einen Wald, stehen in Konkurrenz zu anderen Bäumen. Der Ursprungsort unserer Apfelbäume sind Bergwälder in Kasachstan.
Durchsetzen im Kampf ums Licht kann sich nur der, der möglichst stark in die Höhe wächst. Das Dickenwachstum bleibt darum sekundär, ist aber nicht minder wichtig, weil der Höhentrieb stabilisiert werden muss.

Abb. 14 Spitzenförderung

Dass der Trieb an der Spitze am besten wächst, wird in der Biologie als Apikaldominanz bezeichnet. Spitzen-Vorherrschaft. Und diese wird durch Wuchsstoffe (Auxine) hervorgerufen. Sie wirken an der Spitze einer Pflanze am intensivsten und hemmen gleichzeitig den Wuchs der darunter stehenden Triebe. Weiter nach unten hin nehmen die Auxine an Intensität ab. Bei Bäumen kommt dazu, dass die Spitze schon allein dadurch besser versorgt werden kann, weil sie senkrecht über der Wurzel steht. Bei den Seitenästen muss das Wasser abzweigen.
Abb. 15 zeigt eine sechsarmige Palmette, eine Kunstform in der Baumerziehung. Die Abbildung dient nur zur Verdeutlichung des eben Gesagten.

Abb.15 Sechsarmige Palmette

Hier sieht man ganz deutlich, dass die beiden oberen Äste viel kräftiger ausgebildet sind, als die vier Äste darunter. Und das, obwohl sie die jüngsten sind.
Nur durch diese Förderung der Spitze können die Bäume in der Form wachsen, wie wir sie kennen. Nur so behaupten sie sich gegen die Konkurrenz anderer Bäume.
Ist in einem gewissen Alter das Höhenwachstum abgeschlossen, setzt das Breitenwachstum ein. Auch das kann man vom evolutionären Standpunkt aus verstehen. Nach unten hin wird alles möglichst gut beschattet, damit gar keine Konkurrenz aufkeimen kann (Abb. 16). Wie gesagt, das gilt für den Wald, das gilt für den Durchsetzungskampf, den die Bäume führen müssen. Das Obstbäume so frei stehen wie heute, ist nur die Folge des menschlichen Eingreifens.

Abb. 16 Breitenwachstum

Nun versteht man den Baum besser:
Wie sich aus dem Gesetz der Spitzenförderung ergibt, hat der Mitteltrieb (Stammverlängerung) eine zentrale Stellung im Baum, da sein Wachstum am stärksten gefördert wird. Schauen wir uns einen Baum an, der nach dem Pflanzschnitt sich selbst überlassen blieb (Abb. 17).

Abb. 17 Ein lange nicht geschnittener Baum

Nach den ersten Leitästen (1. Leitast-Etage) bildet er von sich aus weitere Leitast-Etagen. Sie fördern das Wachstum des Mitteltriebes (Stammverlängerung), was man an seiner deutlich stärkeren Ausbildung sehen kann. Die seitlich abgehenden Äste sind viel schwächer entwickelt. Der kräftig entwickelte Mitteltrieb (Stammverlängerung) beschattet, je nach Sonnenstand, immer einen Teil des Baumes und die oberen Leitast-Etagen beschatten die darunter liegenden. Mit dem Ergebnis, dass sich die beschatteten Zonen

des Obstbaums bei fortschreitendem Wachstum kontinuierlich vergrößern. Damit verkleinert sich also der Bereich, in dem Sonnenfrüchte reifen können, verkleinert sich die produktive Zone des Obstbaums.
Es gibt auch eine unproduktive Zone, die so sehr beschattet ist, dass gar keine Fruchtbildung stattfindet, und schließlich die Zone der Schattenfrüchte, die nur von minderwertiger Qualität sind (Abb. 18).

Abb. 18 Produktive Zone


In der konventionellen Erziehung führt der Schnitt ebenfalls zu mehreren Leitast-Etagen. Allerdings werden sie gezielt weiter auseinander gehalten als bei dem oben erwähnten ungeschnittenen Baum. Dennoch stellt sich auch hier mit zunehmendem Alter eine vergleichbare unerwünschte Entwicklung ein: die produktive Zone wird im Verhältnis zur unproduktiven Zone immer kleiner. Bei den Oeschbergbäumen dagegen bleibt sie konstant sehr groß.

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