Neue Wege im Obstbau 1

Kapitel 1

Der junge Baum

An der Entwicklung des Baumes vom Samen an wird gezeigt, was den Obstbaum von anderen Pflanzen unterscheidet. Gleichzeitig werden Begriffe eingeführt, die wir im weiteren Verlauf öfter brauchen werden.
Auf der Abb. 1 oben ist die grüne Aussaatschale zu sehen, in die im Januar die Apfelsamen gelegt wurden und die im ungeheizten Gewächshaus steht.

Abb. 1 Der Baum als Sämling


Äpfel sind Kaltkeimer, d. h. sie müssen, bevor sie keimen können, für einige Wochen Temperaturen ausgesetzt worden sein, die um den Gefrierpunkt herum liegen. Etwa Ende März zeigen sich die Keimblätter. Sie wachsen dann weiter heran und Mitte Mai werden sie in die schwarzen Multitopfplatten “pikiert” (gärtnerischer Fachausdruck für das erste Verpflanzen). Sie haben jetzt mehr Platz sich zu entwickeln, die Wurzeln verzweigen sich weiter und bilden einen kompakten Ballen aus, der es ermöglicht, sie gegen Ende Juni ins Freilandbeet zu pflanzen.

Abb. 2 Der junge Baum

Exkurs: Die Erscheinung der Pflanze

Auf Abb. 1 ist ein Apfelbaum der Sorte ‚Bittenfelder Sämling‘ als zarte Jungpflanze zu sehen. Diese Sorte verwendet man als Wurzelbildner bei der Veredelung.
Auf Abb. 2 sieht man ebenfalls einen Apfelbaum, etwa 4 Jahre alt, direkt nach der Pflanzung.
Erst auf der Abb. 3 kann jedermann zweifelsfrei erkennen, dass sie einen Apfelbaum zeigt, weil er hier Früchte trägt.

Abb. 3 Holsteiner Cox

Die äußere Gestalt der Pflanzen wandelt sich durch ihr Wachstum stetig. Außerdem kommt es im Jahreslauf zu Veränderungen der äußeren Erscheinung: Im Winter sind die Bäume kahl, es folgt der erste Austrieb, Blätter bilden sich, entweder vor, mit oder nach der Blüte, dann folgt die Fruchtbildung, das Vergilben der Blätter, schließlich der Blattfall und im nächsten Jahr beginnt der Kreislauf von neuem.
Einen Stein oder ein Stück Eisen können wir über sehr lange Zeiträume hinweg immer als Ganzes sehen, die Pflanze dagegen können wir nie als Ganzes sehen.
Wir sehen immer nur einen bestimmten Ausschnitt in ihrem Leben. Dass wir in unserer Vorstellung die jeweils nicht in Erscheinung tretenden Teile der Gestalt hinzufügen, um das Bild des Ganzen zu bekommen, geschieht weitgehend unbewusst.

Nachdem das junge Bäumchen ein Jahr auf dem Freilandbeet gewachsen ist, kommt es zu einem großen Einschnitt. Jetzt wird es veredelt.
Dem ‚Bittenfelder Sämling‘ wird als Beispiel ein Reiser der Sorte ‚Goldparmäne‘ aufgepfropft, die wir großziehen wollen. Die Reiser der Edelsorte stammen immer von ausgewachsenen Bäumen, die schon selbst Früchte tragen.

Warum werden Obstbäume immer veredelt?

Um sie sortenrein zu vermehren, darf man nicht einfach einen Apfel- oder Birnenkern nehmen und aussäen. Die Obstgehölze haben ein kompliziertes Vererbungsverhalten und brauchen, bis auf wenige Ausnahmen, bei der Bestäubung immer einen Baum einer anderen Sorte, um überhaupt zur Fruchtbildung zu kommen.
Eine dieser Ausnahmen ist zum Beispiel der ‚Bittenfelder Sämling‘, den wir schon kennengelernt haben. Damit er sortenrein vermehrt werden kann, darf sogar bei der Bestäubung keine andere Sorte beteiligt sein
Außerdem sind Obstbäume mischerbig. Sät man beispielsweise die fünf Kerne eines Apfels ,Boskoop‘ aus, bekommt man fünf gänzlich neue Sorten, aber keinen einzigen ,Boskoop‘.
Es funktioniert ebenfalls nicht, sie aus Stecklingen zu vermehren, wie viele andere Gehölze. Die Steckhölzer wurzeln extrem schlecht an. So bleibt nur die Veredelung mit einer Unterlage und der Edelsorte. Im Laufe der Zeit haben sich gewisse Unterlagen besonders bewährt, sie bestimmen im Wesentlichen die Wuchseigenschaften des Baumes: Stark- oder Schwachwüchsigkeit und Frosthärte zum Beispiel.
Die Edelsorte dagegen bildet zum einen die bestimmte Art der Frucht aus, ist aber ebenso ausschlaggebend für die Ertragsstärke und dafür, ob der Baum jede Saison trägt oder nach einer reichen Ernte im Jahr darauf fast gar nicht. Das ist die sogenannte Alternanz, die uns später noch beschäftigen wird.
Anhand unseres Bäumchens werden wir den praktischen Vorgang bei der Veredelung beschreiben.
Ein Zweig der ‚Goldparmäne‘, der im letzten Jahr gewachsen ist, wird schräg angeschnitten(Abb. 4).

Abb. 4 Kopulation

Am ‚Bittenfelder Sämling‘, der etwa 10 cm über dem Boden abgeschnitten wird, macht man einen passgleichen Gegenschnitt. Dann werden die beiden so aufeinandergelegt, dass die Kambiumschichten deckungsgleich übereinander liegen. Danach macht man eine feste Bindung mit Veredelungsband und das Ganze wird mit Wachs verstrichen, damit das Reis nicht vertrocknet (Abb. 5).

Abb. 5 Binden

Nach etwa vier Wochen sind die Wurzelunterlage des ‚Bittenfelder Sämling‘ und die Edelsorte, die ‚Goldparmäne‘, fest miteinander verwachsen. Jetzt ist ein einziger neuer Baum der Sorte ‚Goldparmäne‘ entstanden, wie ihn die Natur allein nicht hervorbringen kann.
Dass dieses Zusammenwachsen zweier verschiedener Pflanzen überhaupt funktioniert, grenzt an ein Wunder.
Allein die Saftleitungsbahnen von der Wurzel nach oben und diejenigen, die von den Blättern die Stoffwechselprodukte in die Wurzeln transportieren, werden komplett umorganisiert. Ebenso erstaunlich ist, wie die Menschen auf dem Gebiet des Iran vor etwa fünftausend Jahren auf die Idee gekommen sind, so etwas zu versuchen.

Exkurs: Kambium

Das Kambium ist eine hauchdünne Schicht lebender Zellen, von der allein aus das Wachstum des Baumes vor sich geht. Nach außen ist es vom Bast und der Borke umgeben, nach innen vom Splintholz. Das Kambium bildet immer neues Splintholz nach innen, nach außen auch neues Bast, die Grundlage für die Rindenbildung.

Zurück zu dem Bäumchen, das nun in ein Baumschulquartier umgepflanzt wird. Hier wird es die nächsten vier Jahre zusammen mit hunderten anderen Jungbäumen

so erzogen, dass es einen geraden Stamm und eine wohlgeformte Krone ausbildet. Man lässt ihm erst einmal kurze Ästchen am Stamm, damit dieser schneller an Dicke zunimmt, später werden diese entfernt.
In biologischen Baumschulen wird die Aufzucht nicht beschleunigt. Man verwendet weder mineralischen, noch tierischen Dünger, denn wenn die Holzzellen langsam heranwachsen, ist der Holzkörper vor dem Eindringen schädigender Pilzkrankheiten geschützt.
Vier Jahre werden die Bäumchen in der Baumschule großgezogen, dann sind sie verkaufsfertig und kommen so, wie sie Abb. 7 auf S. 5 zeigt, in den Handel.
Anhand dieser Abbildung können gleich einige Begriffe erläutert werden, die später, wenn es um den Schnitt geht, immer wieder auftauchen.

Abb. 7 Baumschulbaum


Die Wurzel
Sie ist ohne jegliche Erde (wurzelnackt) bei Obstbäumen, die man kauft, der Standard, und man sieht, dass die Wurzeln weit eingekürzt sind. Beim Ausgraben in der Baumschule sind alle unteren Wurzelenden abgetrennt worden.

Die Veredelungsstelle
Man erkennt sie auf der Abb. 7 an der Stelle, an der sich der Stamm verjüngt. Die Wurzelunterlage hatte schon länger Zeit heranzuwachsen, deswegen ist sie bereits dicker. Im Laufe der Jahre wird sich das verändern.
Wichtig für die Pflanzpraxis ist, dass die Veredelungsstelle nie mit Erde zugeschüttet wird.
Sie würde sich dann bewurzeln und das Wachstum des ganzen Baumes verändern, in der Regel mit unerwünschten Folgen.
Der Stamm
Der Bereich oberhalb des Erdbodens bis zum Ansatz der ersten Äste wird Stamm genannt. Es gibt Hochstämme mit 1,80 m Stammhöhe, Halbstämme mit 1,30 m Stammhöhe, Buschbäume (auch Viertelstämme genannt) mit 0,90 m Stammhöhe.

Die Stammverlängerung
Die senkrechte Fortsetzung des Stammes, bis in die höchste Spitze der Baumkrone wird Stammverlängerung genannt. Sie ist von zentraler Bedeutung für den Baum.

Die Krone
Äste und Zweige, an denen sich die Blätter und später Früchte bilden. Sie gliedert sich noch weiter auf in Leitäste, Seitenäste und Fruchtäste, was später erläutert wird.

Der Pflanzschnitt

Die Beschreibung der Anzucht eines jungen Apfelbaumes sollte vor allem zeigen, wie stark die Obstgehölze bis in ihr Wesen vom Menschen beeinflusst sind, denn die Veredelung hat ihren natürlichen Wuchs vollkommen verändert, hat zwei verschiedene Pflanzen zu einer vollständig neuen gemacht.
Die folgenden Ausführungen über den Pflanzschnitt demonstrieren nun, dass man Obstbäume in ihrem Wuchs so lenken kann, wie sie für die Bedürfnisse des Menschen nach gesunden Früchten gebraucht werden. Ohne sie dabei zu Höchstleistungen zu zwingen, die sie auf lange Sicht schädigen würden.
Der Baum befindet sich in einem ständigen Wachstumsprozess und wir wollen ihn dahin bringen eine Krone auszubilden, die man bis in die Altersphase hinein gut beernten kann, dahin, dass er gesund bleibt und uns reichlich Obst schenkt. Das wird schon beim ersten Pflanzschnitt mit angelegt:
Wenn er in der Baumschule ausgegraben, d. h. gerodet wurde, verliert er den größten Teil seiner Wurzelmasse. Bäume haben unter der Erde den nahezu gleichen Anteil an Wurzelsubstanz wie über der Erde Substanz an ihrem Astgerüst. Dabei sind auch die ganzen Feinwurzeln mitgerechnet, die nur vergrößert sichtbar gemacht werden können.

Abb. 8 Pflanzschnitt

Auf Abb. 8 ist deutlich das Missverhältnis von Wurzelmasse zu oberirdischen Trieben zu sehen und hier setzt als erste Maßnahme der Pflanzschnitt an. Man belässt dem Jungbaum nur vier Leitäste und die Stammverlängerung. Sie bilden später das Grundgerüst des Baumes. Außerdem kürzt man sie auch noch um ein Drittel ihrer Länge ein. Ließe man sie gänzlich ungekürzt, würde der Baum mit ziemlicher Sicherheit nicht anwachsen, weil er eine zu große Anzahl an Knospen zu versorgen hätte, ihm aber die nötigen Reservestoffe fehlen. Die hatte er zwar in den Wurzeln eingelagert, sie sind jedoch weitgehend beim Roden verloren gegangen. Ungeschnitten treiben die Knospen oft nur zaghaft aus. Bevor Blätter gebildet sind, die die Energieversorgung des Baumes übernehmen könnten, kommt das Wachstum zum Stocken und der Baum wird eingehen. Nach einem korrekten Pflanzschnitt ist die Anzahl der Knospen zwar auf etwa ein Drittel gesunken, der Austrieb wird aber zügig erfolgen und die in der Anzahl reduzierten Knospen bilden große Blätter aus, die dem Jungbaum neue Energie zuführen. Beim Schnitt belässt man dem Baum nur die als Leitäste, die gleichmäßig um den Stamm herum verteilt sind. Dabei muss darauf achten, dass sie nicht zu steil stehen. Dann sind sie nicht genügend verankert und würden unter der Last der Früchte herausbrechen. Schlitzast ist dafür der Fachbegriff. Sie sollen möglichst in einem Winkel zwischen 80° und 50° vom Stamm abgehen, damit sie die gewünschte Stabilität erreichen.

Kleine Baumformen

Beschäftigte man sich in der Jahrtausende währenden Geschichte des Obstbaus vor allem mit der Zucht von neuen Sorten, kam in Frankreich im 19. Jahrhundert etwas anderes hinzu: schwachwüchsige Unterlagen. Zufällige Mutationen, die so wenig wuchsen, dass die Obstbäume komplett vom Boden aus geerntet werden konnten. Zuerst wurden sie nur in den Parks der großen Schlösser gepflanzt und erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dann auch für den Erwerbsobstbau genutzt (Abb. 9).
Die Unterlagen ließen sich, anders als die Sämlingsunterlagen, vegetativ über Wurzelausläufer vermehren und so dass man in kurzer Zeit große Mengen von ihnen heranziehen konnte. Im übrigen Europa setzten sie sich dann Anfang des 20. Jahrhunderts durch und man begann auch sie systematisch weiterzuentwickeln.
Die Vorteile gegenüber den großen Bäumen waren gewaltig. Viel weniger Handarbeit bei der Bodenpflege, weil man mit den Pferdegespannen bis dicht an die Bäumchen fahren konnte. Enorme Erleichterung bei Schnitt und Ernte. So praktisch sie vom Boden aus zu pflücken waren, es zeigten sich auch bald die Nachteile. Eine hohe Anfälligkeit für Pflanzenkrankheiten (Rost, Monilia, Schorf) und Schädlinge, die mit immer höheren Gaben an Pflanzenschutzmitteln bekämpft werden mussten. Außerdem bleiben die Früchte auch deutlich im Aroma zurück und sind weniger gut lagerfähig auf dem Naturlager. Die Ursachen für diese Nachteile liegen auf der Hand. Weil die Wurzeln der schwachwüchsigen Unterlagen nicht normal entwickelt sind, reichen sie nicht bis in tiefere Bodenschichten und die künstliche Düngung, mit der sie ernährt werden müssen, kann nicht die Vielzahl an Spurenelementen liefern, die ein Baum braucht, um gesund zu bleiben.

Abb. 9 Plantagenbaum

Der Oeschbergbaum

In der Schweiz ging Professor Hans Spreng einen anderen Weg. In der Obstbauversuchsanstalt Oeschberg entwickelte er etwa ab 1940 aus der Beobachtung des Pflanzenwuchses heraus eine Erziehungs- und Schnittmethode für die Bäume auf Sämlingsunterlage, um sie weniger in die Höhe, als vielmehr in die Breite wachsen zu lassen. Ab den 1960er Jahren entwickelte Hans Palmer diesen Schnitt weiter und verbreitete ihn im südwestdeutschen Raum.
Solche Bäume kann man natürlich nicht komplett vom Boden aus ernten, aber sie sind doch deutlich niedriger als konventionell gezogene Bäume auf Sämlingsunterlage und vereinen deren gesamte Vorzüge. Das heißt, eine weitaus geringere Anfälligkeit für die oben erwähnten Krankheiten und dementsprechend gesundes Obst, das nicht gespritzt zu werden braucht. Das Obst ist sogar von noch besserer Qualität als bei einem konventionell erzogenen Baum auf Sämlingsunterlage, weil in der breiten, flachen Krone des Oeschbergbaumes viel mehr Sonnenfrüchte heranreifen können, wie die Abb.10 zeigt.
Betrachten wir die Krone dieses Oeschbergbaumes, der sich in seinem besten Ertragsalter befindet, fällt der zurückgebliebene Mitteltrieb auf. Der ist das Resultat eines jahrelangen Erziehungsprozesses durch behutsame und wohlüberlegte Schnittmaßnahmen.
Man kann nicht einfach die Spitze eines Baumes absägen in der Erwartung, dass nun Licht in die Krone kommt. Wir haben es beim Obstbaum mit einem lebenden Wesen zu tun, bei dem der Schnitt das eine, die Reaktion des Baumes auf diesen Schnitt aber das viel Entscheidendere ist. Beim Vorgang der Baumerziehung kommt es darauf an jede einzelne Maßnahme aus den Gesetzmäßigkeiten des Pflanzenwachstums zu begründen. Daher müssen wir uns erst einmal mit dem Gesetz der Spitzenförderung beschäftigen, das den Wuchs der Bäume beschreibt.

Abb. 10 Typischer Oeschbergbaum

Exkurs: Das Gesetz der Spitzenförderung

Wuchsintensität
Das Wachstum steigt von unten nach oben gleichmäßig an und ist an der Spitze am stärksten. An Obstbäumen kann man das gut an den letztjährigen Trieben beobachten. Sie sind im unteren Kronenbereich deutlich kürzer als weiter oben.
Das Gesetz der Spitzenförderung gilt für den Baum als Ganzes. Außerdem beschreibt es den Wuchszuwachs an den einzelnen Trieben innerhalb der Baumkrone. Je nach Stellung der Knospe auf dem Trieb, ergibt sich eine unterschiedliche Wuchsstärke.

Spitzenförderung
Jeder Baum hat, solange er sich im Höhenwachstum befindet, eine eindeutige Spitze, die seinen höchsten Punkt darstellt. Sie liegt in der senkrechten Achse (Stammverlängerung), es sei denn, diese ist durch äußere Einflüsse beschädigt worden. Erst im Alter, wenn das Höhen- zum Breitenwachstum wird, kann man den hö
chsten Punkt am Baum nicht mehr so eindeutig definieren.

Triebspitzenförderung
Der Zuwachs ist an einem steil stehenden Zweig am stärksten bei den oberen Trieben (Abb. 11).


Ebenso ist der Neuzuwachs auf der Zweigoberseite größer als auf der Zweigunterseite (Abb. 12).


Triebe, die dicht an der Basis stehen, also dem Ast oder dem Stamm, dem sie entspringen, werden stärker gefördert. (Abb. 13)


Es gibt noch weitere Differenzierungen, die später besprochen werden. Weiterlesen