Vorbereitung auf den Schnitt
Zuvor muss noch auf einige Schwierigkeiten eingegangen werden, die manche Leute mit dem Schnitt an einem lebendigen Organismus wie einem Obstbaum haben. Das soll bildhaft geschildert werden: Viele sehen den Baum ganz antropomorph, einer menschlichen Gestalt ähnlich. Als ein Wesen, dass seinen Körper im Stamm, den Kopf in der Krone und seine Gliedmaßen in den seitswärts ausgestreckten Ästen hat. Solche Leute haben natürlich die größten Sorgen hier auch nur das kleinste Ästchen abzuschneiden und dadurch eine mögliche Verletzung des Baumes zu riskieren. Aber Obstbäume sollen den Zweck erfüllen, reichlich gesunde Früchte hervorzubringen und das tun sie nicht, ohne den Schnitt.
Der Baum ist ein lebendiges Wesen, ohne Zweifel, aber eine Pflanze. Der Holzkörper ist kein Organ, sondern lediglich das Traggerüst.
In dem folgenden Exkurs soll das Pflanzenleben charakterisiert werden.
Exkurs: Was ist eine Pflanze?
An diesem Keimling sehen wir schon alle Organe der Pflanze.

• Bei Blühpflanzen kommt noch ein Viertes hinzu: Die Blüte. Es handelt sich um kein eigenständiges Organ, sondern eine Metamorphose der Sprossachse. Die Blüte dient der generativen Vermehrung (geschlechtliche, im Gegensatz zur vegetativen ungeschlechtlichen Vermehrung). Dazu gelangt der Pollen (männlich) auf den Stempel, (weiblich). Das geschieht entweder durch den Wind oder durch Tiere wie etwa die Bienen.
• Man unterscheidet: einjährige Pflanzen (sie machen ihren ganzen Entwicklungszyklus während eines Jahres durch und sterben danach ab) von
• zweijährigen Pflanzen (sie bilden im ersten Jahr eine Blattrosette, blühen dann im zweiten Jahr und sterben ab).
• Ausdauernde Stauden (bei ihnen stirbt nur das oberirdisch Wachsende ab, die Wurzel bleibt erhalten und treibt jedes Jahr neue Triebe und Blüten).
• Sträucher und Bäume, die auch unter- und oberirdisch ausdauernd sind (bei ihnen baut die Sprossachse nach innen hin den Holzkörper auf, nach außen hin die Rinde. Der Holzkörper ist aber kein Organ des Strauches oder Baumes.
• Die Wurzel nimmt die im Bodenwasser gelösten mineralischen Nährstoffe auf und speichert sie hier. Außerdem verankert sie die Pflanze im Boden.
• Das Blatt ist das Atmungsorgan der Pflanze, produziert die für das Wachstum benötigte Energie.
• Die Sprossachse verbindet Blatt und Wurzel. Sie transportiert die Stoffe in der Pflanze. In Wasser gelöste Nährstoffe gelangen hinauf, organische Materialien werden nach unten befördert. Sie verzweigt sich bis in jedes einzelne Blatt. Das gilt für alle Pflanzen.
Heißt das nicht, dass man nun nach Gutdünken an einem Baum herumschneiden kann?
Wenn der Holzkörper auch kein Organ ist, hat er dennoch die Funktion als lebendiges Traggerüst, die bei radikalen Eingriffen wie auf Abb. 12 erheblich beeinträchtigt wird.

Aber der Holzkörper muss nicht diese Gestalt annehmen, die er von seinem natürlichen Wachstum her hätte. Er kann verändert, d. h. erzogen werden zu einer Form, die der Mensch ihm gibt. Damit muss aber ganz früh in der Jugend des Baumes angefangen werden, denn der Holzkörper ist ja starr und nicht plastisch und nur die ganz jungen Triebe lassen sich verändern.
Das sind die Extreme: Die einen wollen am liebsten gar nichts abschneiden, die anderen kennen dabei keine Grenzen.
Bei allem, was wir an Obstbäumen tun, müssen wir uns immer von unserer Vorstellungskraft leiten lassen. Sägt ein Tischler ein Stück Holz ab, hat er sofort das fertige Ergebnis. Sägen wir an einem Baum einen Ast ab, haben wir zunächst auch ein fertiges Ergebnis. Da der Baum aber ein Eigenleben führt, setzt unser Schnitt gleichzeitig einen Prozess des Wachstums in Gang. Wie dieser Wuchsvorgang aussehen wird, müssen wir uns in unserer Vorstellung bewusst machen und den Schnitt entsprechend so ansetzen, dass wir im Einklang mit den Wachstumsgesetzen handeln.
Da haben wir bereits kennengelernt das Gesetz der Spitzenförderung (Kap. 1 Exkurs: Das Gesetz der Spitzenförderung“ ) und die sortenbedingten Eigenschaften (siehe „Sortenbedingte Eigenschaften“). Nun kommt noch ein Drittes hinzu.
Um das Wuchsverhalten eines Obstbaums besser verstehen zu können, muss man wissen, dass seine Knospen in einem ganz bestimmten Verhältnis zueinander stehen.
Unsere Obstbäume, außer den Nussbäumen, gehören zu der Familie der Rosengewächse und allen Mitgliedern dieser Familie ist gemein, dass die Knospen an ihren Trieben streng symmetrisch angeordnet sind: Sie sind spiralig um den Zweig verteilt, jeweils um 144° (12 X 12) versetzt. Das heißt zum einen, dass immer die 6. Knospe genau über der ersten steht. Zum anderen, und das ist für den Schnitt so wichtig: hat man eine falsch angeschnitten und sie trocknet weg, wird die darunter liegende in die entgegengesetzte Richtung austreiben.

Man kann auch dieser Tatsache heraus also nicht einfach drauflosschneiden, sondern muss wirklich bei jedem Schnitt schauen, in welche Richtung die Knospe austreiben wird, die man gerade anschneiden will.
Exkurs: Anschneiden
Unter „Anschneiden“ versteht man das Einkürzen eines letztjährigen Triebes. Es bewirkt zum einen eine Förderung des Austriebsverhalten, zum anderen wird der Trieb im Dickenwachstum gestärkt. ,,Wegschneiden“, also gänzlich entfernen, sagt man bei älteren Trieben- und Zweigen.
Sich jede Knospe bewusst zu machen erscheint den meisten ungeübten Obstbaumschneidern angesichts eines großen Baumes als eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Das wird später erläutert. Aber schon in kurzer Zeit kann man sich diese Gesetzmäßigkeiten verinnerlichen und anwenden lernen. Wobei es anzuraten ist, erst einmal mit kleineren und jüngeren Bäumen anzufangen.
Künstliche Wuchsformen
Bevor im nächsten Kapitel der Schnitt einer Erziehungsform beschrieben wird, die zwar auf einer starkwüchsigen Unterlage wächst, aber deutlich niedriger bleibt und damit leichter zu pflegen und zu ernten ist, den Oeschbergbaum, soll noch ein Blick auf Kunstformen geworfen werden, die weit von dem gewohnten Bild eines Baumes abweichen.


Die sogenannte Kesselkrone wird nicht einmal 1,5 m groß, der Schnurbaum darunter, kaum größer. Die schrägen Schnurbäumchen auf Abb. 16 wurzeln so schwach, dass sie zeitlebens am Draht befestigt sein müssen. Man kann so etwas natürlich als Spielerei abtun, aber man muss auch bedenken, dass es im 19. Jahrhundert noch kein Importobst gab und so mit Hilfe dieser Kunstformen auch anspruchsvolle Obstsorten an besonders geschützten Stellen im Garten kultiviert werden konnten.

Sehr verbreitet waren die Palmetten.

Diese Kunstformen zu erziehen ist sehr aufwendig. Neben dem Winterschnitt muss auch im Sommer mehrmals geschnitten werden.
Hier werden werden sie vor allem deshalb erwähnt, weil viele Kulturtechniken, die auch heute noch gebraucht werden, an ihnen entwickelt wurden. So das Binden der Triebe, das Spreizen, beides Maßnahmen zur Formierung der Äste. Dann das Pinzieren, bei dem der Haupttrieb ausgeschnitten wird, damit sich kräftige Seitentriebe bilden können. Auch das „Auge-Umkehr-Verfahren“ (Kap. 3 Erziehunsschnitt) stammt ursprünglich aus der Fruchtholzerziehung der Kunstformen.
Außerdem sollte deutlich werden, dass Bäume durchaus nicht nur die uns vertraute Form zeigen müssen, sondern auch andere, ungewohnte Erscheinungsbilder möglich sind.

So sind auch die Oeschbergbäume auf den ersten Blick ungewohnt, weil bei ihnen die dominierende Stammverlängerung, deutlich weniger ausgeprägt ist und dafür die vier Leitäste viel höher zeigen und auch stärker sind, als bei Bäumen konventioneller Erziehung.
Die Faktoren des vegetativen Wachstums sind jetzt hinlänglich besprochen. Was bei den Obstbäumen aber noch berücksichtigt werden muss, die Fruchtbildung, das generative Wachstum, wird erst nach der Beschreibung des Erziehungsschnitts behandelt. In den ersten Jahren ist der Obstbaum noch ganz mit der Ausbildung des Kronengerüsts befasst, da spielt die Fruchtbildung noch keine große Rolle. Man muss nur die entsprechenden Vorkehrungen dafür schaffen, dass sie sich später optimal entwickeln kann.
Die vegetative Wachstumskraft ist ein Strom, der sich von unten nach oben verstärkt, der sich durch den Stamm in die einzelnen Äste verzweigt. Die generative Wachstumskraft dagegen wirkt radial, kugelförmig, aber nicht ausstrahlend, sondern zusammenziehend. Der Pflanze, die in einem ihrer hauptsächlichsten Organe, dem Blatt, ganz Fläche ist, wird durch sie eine dritte Dimension hinzugefügt. Und gerade dieser Fruchtkörper macht die Obstbäume für uns erst wertvoll und deshalb kultivieren wir sie.